Digitalisierung hat viele Gesichter. Erfahren Sie mehr über die „erste vollständig papierlos durchgeführte Tagung im deutschsprachigen Raum“ und das damit verbundene Forschungsprojekt.
Außerdem bekommen Sie hier von David Sossna (Universität Osnabrück) seine Lessons Learned aus dem Projekt.
Papierlos zu tagen, bedingt ein sehr gutes Informations-/Wissensmanagement. Schafft man es, bringt dies wiederum Wissen in der Tagung und zur Tagung zum Fließen. Daher interessiert mich dieses Projekt für meine Arbeit. Und ich stelle interessante Erkenntnisse für Ihre Veranstaltungsarbeit vor.
Alle Links zu den vorherigen Teilen meiner Blogpost-Serie zu Wissenstransfer auf Fachveranstaltungen finden Sie unten.
12. Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik
Die Tagung (WI) „ist die größte Tagung der Wirtschaftsinformatik im deutschsprachigen Raum.“ „Sie richtet sich an Wissenschaftler, Praktiker und Studierende, die an aktuellen Entwicklungen von Informationstechnologien und an den darauf aufbauenden Geschäftsmodellen interessiert sind.“
„Die WI wird von der wissenschaftlichen Kommission der Wirtschaftsinformatik des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. alle zwei Jahre neu vergeben.“ „Der Fachbereich, der den Zuschlag erhält, zeichnet verantwortlich für die vollständige Organisation der Tagung. Als Veranstalter fungiert in der Regel die jeweilige Hochschule. Neben der Durchführung des für eine wissenschaftliche Tagung zentralen Review-Prozesses, in dem ca. 800 eingereichte wissenschaftliche Artikel bewertet und angenommen bzw. abgelehnt werden, obliegen dem organisierenden Fachbereich alle weiteren Aufgaben, die in Verbindung mit der Tagungsorganisation stehen.“
2015 waren die Universität Osnabrück und deren Fachbereiche Informationsmanagement und Wirtschaftsinformatik sowie Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik zuständig.
Die Konferenz dauerte 2,5 Tage mit
- über 100 wissenschaftlichen Vorträgen,
- 12 Business-Vorträgen,
- 6 Keynotes
- sowie Workshops, Sitzungen und 2 Abendveranstaltungen.
„Über den gesamten Tagungszeitraum besuchten die WI über 800 Gäste.
47 Partner und Sponsoren (davon 20 Aussteller) nutzten die Tagung als Präsentationsfläche.“
„Das Thema für die WI 2015 lautete ‚Smart Enterprise Engineering – Digitale Produkte und Prozesse für das Unternehmen der Zukunft’. Diesem Fokus entsprechend wurde auch die Tagung selbst über alle Prozessschritte hinweg – von der Vorbereitung bis hin zur Durchführung vor Ort – vollständig digital durchgeführt und mithilfe digitaler Produkte organisiert.“
Das digitale Tagungskonzept
Das Konzept (pAPPyrOS), dessen Umsetzung in der Tagung, die wissenschaftliche Untersuchung sowie die begleitende Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wurden im Rahmen eines 18monatigen Förderprojektes der Deutschen Bundesstiftung Umwelt entwickelt.
Die wissenschaftliche Untersuchung fokussierte „auf Akzeptanz, Nutzung und Mehrwert für Besucher, Veranstalter und Sponsoren“. Damit „sollen weitere Einrichtungen und Veranstalter auf dieses Konzept zurückgreifen können.“
Natürlich macht das nur Sinn, wenn die als Alternative gewählten digitalen Prozesse effizient und kostengünstig sind. Und der Informationstransfer zwischen allen Beteiligten funktioniert. Worauf auch geachtet wurde: Alle Dokumente wurden zentral über Cloud-Technologien allen internen und externen Beteiligten zugänglich gemacht. Gelungenes Informationsmanagement, dass Missverständnisse und Mehrarbeit vermeidet. Dies kam als große Arbeitserleichterung und Flexibilität sehr gut an.
Sponsoren und papierlos tagen?
Für die Konferenz gibt es eine Vielfalt an Sponsoringmöglichkeiten. Dass es diesmal keine Tagungstaschen mit Werbematerialien geben würde, kommunizierte man ehrlich bei der Akquise der Sponsoren. Das führte nicht zu Absagen, sondern wurde sogar in den nach der WI geführten Leitfadeninterviews begrüßt.
Verifizierte Hypothesen waren dabei u.a:
- „Der Verzicht auf Printprodukte bei Tagungen und Kongressen unterstützt ein innovatives Image der Sponsoren.“
- „Der Verzicht auf Printprodukte bei Tagungen und Kongressen unterstützt ein grünes Image der Sponsoren.“
Eine erste Lesson Learned:
„Wird auf Papier verzichtet, sollten Veranstalter schon bei der Planung berücksichtigen, dass innovative, interaktive und passgenaue Platzierungsmöglichkeiten für Sponsoren im Rahmen der Tagung bereitgestellt und genutzt werden können.“
Teilnehmer und papierlos tagen?
Auch hier waren die Event-Kommunikation und das Informationsmanagement ausschließlich digital. „Die hohe Flexibilität der digitalen Kommunikationskanäle und die direkte Vernetzung“ kamen sehr gut an.
Eine weitere Lesson Learned:
Selbstverständlich war auch das die Anmeldung zur Teilnahme digital. Da dabei „keine Unterschrift geleistet werden kann, sollte der Anmeldeprozess eine Methode beinhalten, die Verbindlichkeit und Korrektheit der Anmeldung zu gewährleisten. Im Falle der WI 2015 wurde nach der Anmeldung eine E-Mail generiert, in der die angemeldete Person aufgefordert wurde, per Mausklick die Anmeldung verbindlich zu bestätigen.“
Vor und im Event unterstützte eine App beim Informationsmanagement mit:
Karte, denn es gab 3 Veranstaltungsorte,
Programm, mit Möglichkeit, sich das eigene Programm zusammenzustellen,
Sponsoren-Partnerüberblick, inklusive Kontaktmöglichkeiten,
eigenem Profil, dass in einer Teilnehmer-Liste abrufbar war, inklusive Nachrichtenaustausch und Verabreden über die App, Verabredungen konnte man ins eigene Eventprogramm überführen,
eTicket.
„Zusätzlich wurde das Programm auf Bildschirmen vor Ort dargestellt.“ „84 % der Teilnehmer stimmten der Aussage zu, dass das vor Ort zur Verfügung
gestellte Informationsangebot völlig ausreichend war.“
Natürlich braucht es bei all dem spezielle Fürsorge:
- „So wurden unter den Sitzbänken Mehrfachstecker platziert, die garantierten, dass Gäste während der Arbeit den Laptop mit Strom versorgen konnten.“
- In der Garderobe wurde „eine Handyabgabestation eingerichtet. Dazu wurden ca. 20 Mehrfachstecker mit insgesamt 100 Steckplätzen installiert. So ergaben sich 100 nummerierte und überwachte Auflademöglichkeiten.“
Interessant das Feedback nach dem Event im Detail:
- Einerseits „stimmte ungefähr die Hälfte der Befragten“ der Aussage zu, „ob ausgedruckte Informationsmaterialien den Tagungsbesuch vereinfacht hätten“.
- Andererseits „waren über 60 % der Befragten der Meinung, dass die Qualität der Informationen bei der WI 2015 größer war als bei Tagungen, bei denen die Informationen ausgedruckt zur Verfügung gestellt werden.“
Mehr Lessons Learned
David Sossna, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Informationsmanagement und Wirtschaftsinformatik der Universität Osnabrück betreute dort unter anderem das Projekt. Er war so freundlich mir für Sie Lessons Learned zusammen zu fassen.
Annette Hexelschneider (A.H.):
Aus diesem Projekt haben Sie viele Erfahrungen mitgenommen. Was waren angenehm überraschende Erfahrungen?
David Sossna (D.S.):
Die ursprüngliche Idee war es, Papier als Informationsträger bei der WI 2015 durch digitale Technologien vollständig zu substituieren. Am Ende konnte viel mehr erreicht werden.
- Die Organisation und die Planung konnte wesentlich schlanker, effizienter und durch die Vernetzung besser abgestimmt durchgeführt werden.
- Das Informationsmanagement und das Teilnehmermanagement konnte flexibler gestaltet werden.
- Informationen konnten unkomplizierter angepasst werden und leichter an die relevanten Akteure kommuniziert werden.
- Auch beteiligte Akteure, wie Sponsoren, profitieren von wegfallenden Druckterminen.
- Ganze Arbeitspakete und zahlreiche Deadlines sind einfach weggefallen. Die sich dadurch ergebene Zeit konnte in andere Aufgaben und in die Verbesserung der Qualität der Tagung gesteckt werden.
- Der Verzicht auf Kataloge oder Printmaterialen führte zu weiteren Materialeinsparungen.
Die angenehmste Überraschung war wahrscheinlich, dass kein beteiligter Partner, also auch kein Sponsor, den Verzicht auf Papier als Informationsträger kritisch gesehen hat. Vielmehr kritisierten einige die bisherige Praxis, Tagungstaschen auszugeben oder einen Wust an Katalogen zu drucken, die dann doch nur im Müll landen.
A.H.:
Was würden Sie bei einer nächsten papierlosen Tagung anders machen?
D.S.:
Die gesammelten Erfahrungen und das gewonnene Know-how ermöglichen eine ganz andere Planung des digitalen Informationsmanagements. Bei der Planung würde ich auf Plattformen setzen, um Informationen zentral zu speichern und zur Verfügung zu stellen und noch mehr auf die Vermeidung von Medienbrüche achten.
A.H.:
Was wären Ihre 3 bis 5 wichtigsten Tipps für OrganisatorInnen, die auch papierlos tagen wollen?
D.S.:
- Denken Sie beim Thema Digitalisierung an Chancen und Möglichkeiten für die Durchführung und Planung eines Events.
- Denken Sie nicht an die Prozesse, die Sie darstellen müssen. Denken Sie daran, welche Ziele Sie mit einer Tagung oder einer Aufgabe erreichen wollen und daran, wie sie diese durch digitale Technologien unterstützen können.
- Denken Sie vom Kunden aus: Was wünscht sich der Teilnehmer, welche Informationstechnologien stehen ihm zur Verfügung und wann braucht er welche Informationen in welcher Form.
- Stecken sie die gewonnene Zeit in mehr Qualität und Kreativität und belohnen Sie sich mit Freizeit dafür, dass sie etwas in besserer Qualität schneller erledigt bekommen haben.
- Informieren Sie sich über Trends und Technologien, lassen Sie sich inspirieren und entwickeln Sie Strategien für ihre eigenen Events. Lernen Sie, die Technologien einzusetzen und dadurch zu beherrschen.
A.H.: Vielen Dank.
Fortsetzung folgt?
D.S.:
Nachdem Erfolg von pAPPyrOS und der WI 2015, arbeiten wir gerade im Projekt IT 4 Green Events daran, dass Thema digitales und nachhaltiges Tagen zu verstetigen und entwickeln Lehrinhalte zu dem Thema für Fach und Führungskräfte der Eventbranche.
Und wie ist es mit der WI2017 weiter gegangen? Das hat mich neugierig gemacht. Ich habe dabei ein interessantes Kommunikations-Format für komplexes Fachwissen gefunden. Mehr dazu folgt in einem späteren Blogpost.
Blogposts der Serie für Wissenstransfer auf Fachveranstaltungen:
- Tagung und Kongress: Wie Sie Mehrwert(e) für TeilnehmerInnen schaffen (Teil 1)
- Tagung und Kongress: Wissenstransfer mit Event-Apps (Teil 2)
- Tagung und Kongress: Der Wissenstransfer Event Canvas (Teil 3)
- Tagung und Kongress: Interaktiv tagen – Wissen besser fließen lassen (Teil 5)
Quellen
Das Interview habe ich mit David Sossna per Mail geführt.
Sämtliche weitere Zitate und das App-Foto:
Sossna, David, Thomas, Oliver (2017) Vollständig papierlos tagen – Ergebnisse der 12. Internationalen Tagung Wirtschaftsinformatik. In: T. Knoll (Hrsg.) (2017) Veranstaltungen 4.0. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Die „erste vollständig papierlos durchgeführte Tagung im deutschsprachigen Raum“? Das stimmt so nicht. Ich kenne einige Veranstaltungen, die schon seit Jahren in Deutschland und anderswo papierlos vonstatten gehen.
Beispiel 1: die Meetings der ISO, wo je nach Komitee mehrere hundert Experten eine Woche lang tagen. Jeder Teilnehmer hat seinen Laptop oder Tablet PC dabei und ist „always on-line“. Die diskutierten Dokumente werden über eine „linked agenda“ aufgerufen. Der Sitzungssekretär stellt aktualisierte oder neue Dokumente auf den in der Schweiz gehosteten Server ein, worüber alle Teilnehmer automatisch in Echtzeit per E-Mail informiert werden.
Beispiel 2: die gemeinsamen Veranstaltungen von Bundesverband Druck und Medien, Fogra und Zipcon. Die Teilnehmer können (so wie bei Ihnen) lange vorher eine App herunterladen, auf der Teilnehmerliste, Sponsoren, Referenten mit ihren Präsentationen, Veranstaltungsbilder Vorjahr usw. auf neuestem Stand angezeigt werden. Ganz wichtig: Mit der App können während der laufenden Vorträge Fragen aus dem Auditorium hochgeladen werden. Anstatt Mikrofone im Saal herumzureichen, werden die gestellten Fragen an die Wand projiziert und nacheinander diskutiert. Darüber hinaus werden die Sponsoren zwischen den Referaten durch einen „Live-Reporter“ mit Kamera und Mikrofon vorgestellt. Das lockert auf und lockt in den Pausen an.
Wie gesagt, alles nicht neu.
Viele Grüße
Dieter Kleeberg, Referent T+F, bvdm, Berlin
Danke für die Hinweise, Dieter.
Kleines Update: Liebe Annette, ich muss zugeben, dass das von Herrn Sossna beschriebene pAPPyrOS-Veranstaltungskonzept natürlich als Blaupause für künftige papierlose Tagungen genutzt werden kann und sollte. Meine genannten Beispielveranstaltungen werden quasi aus pragmatischen Gründen papierlos organisiert, also ohne ein gezielt papierloses Konzept. Insofern sollte pAPPyrOS achon besonders gewürdigt und propagiert werden.
Viele Grüße aus Berlin
Dieter
Das freut mich zu hören, Dieter